Hier findest du Texte, die genau 250 Worte beinhalten. Eines davon wurde in der Facebook-Gruppe „Aussagekräftig“ vorgegeben. Wenn ich es zeitlich schaffe, dann gibt es jede Woche einen neuen Beitrag.
Gabelfrühstück
Marita öffnete den Brief, den sie gerade aus dem Kasten genommen hatte und grinste voller Vorfreude. Post von Nadine konnte nur eines bedeuten: Sie war aus dem Urlaub zurück und gab eine Party. Ihr Gefühl hatte sie nicht getrogen, denn das Schreiben war eine Einladung zu einem griechischen Abend. Sie grinste noch breiter, als sie die Unterschrift entdeckte: „Wir freuen uns auf dich, Nadine und Costa“. Hatte sie es doch tatsächlich wieder geschafft!
Jedes Jahr verbrachte Nadine einen längeren Urlaub im Ausland. Und immer brachte sie von dort nicht nur landestypische Gerichte und Getränke, sondern auch jedes Mal eine andere „Liebe ihres Lebens“ mit. Der wurde dann mit einer entsprechenden Party in den Kreis der Freundinnen eingeführt. Dank Connor und Angus kannte Marita den Unterschied zwischen irischem Whiskey und schottischem Whisky. Jean-Paul erklärte die Geheimnisse des Bordeaux-Weines und Gabriel brachte Aquadente und Degenfisch von der Insel Madeira mit. Dummerweise verschwanden die Männer immer um den Jahreswechsel herum spurlos in ihre Heimat. Nadine zuckte mit den Schultern und plante den nächsten Urlaub. So war es auch im letzten Jahr mit Franzl. Da gab es mal keine Party, sondern es wurde zum Gabelfrühstück eingeladen. Marita konnte sich darunter nichts vorstellen und musste erst einmal googeln. Ein spätes Frühstück, bei dem alkoholische Getränke gereicht wurden, war ebenfalls nicht schlecht. Leider kehrte auch Franzl irgendwann nach Wien zurück. Costa würde sicher ein ähnliches Schicksal ereilen. Hoffentlich plante Nadine als Nächstes nicht eine Schwedenreise. Dieser Stinkefisch soll furchtbar sein. Darauf hatte Marita echt keine Lust.
Luftikus
„Ach wie schön, dass ihr mir bei der Apfelernte helft!“ Die kleine Frau strahlte, während Dackeldame Tina um sie herumwuselte. „Ist doch kein Problem, Omileinchen.“ Lara warf einen Blick zu Ben. Ihr Freund war gar nicht von der Idee begeistert, hier zu sein. Gerade als sie nach den Körben für die Äpfel greifen wollte, klingelte sein Handy. Er zog es aus der Hosentasche und Lara glaubte einen Moment so etwas wie Erleichterung in seinem Blick zu sehen. Sicher hatte sie sich getäuscht, denn gleich darauf verzog er unglücklich das Gesicht. „Tut mir leid, ich muss los. Max hat eine Panne mit dem Auto und ich soll ihn abschleppen.“ Die Oma nickte und umarmte ihn kurz. „Das muss dann wohl sein. Wenn man um Hilfe gebeten wird, sollte man helfen.“
Zwei Stunden später saßen Lara und Oma am Küchentisch, tranken Kaffee und aßen Kuchen. Lara sah erstaunt, dass die alte Dame ihr Handy zückte und eine App öffnete. „Wo wohnt denn dieser Max?“ „Am anderen Ende der Stadt.“ „In der Nähe der Skaterbahn?“ „Nein, das ist ganz wo anders.“ „Du weißt schon, dass dein Ben ein Luftikus und Lügenbeutel ist?“ Sie schob Lara das Handy hin, auf dem eine Straßenkarte zu sehen war. Eine blaue Linie zog sich von Omas Haus auf dem kürzesten Weg zur Skaterbahn. „Ich habe ihm beim Abschied Tinas Tracker in die Jackentasche geschmuggelt. Den habe ich gekauft um zu sehen wo mein Hund manchmal herumstromert. Aber wie es aussieht, ist er auch für andere Dinge gut.“
Armutszeugnis
Ronja starrte auf den Brief in ihrer Hand. Obwohl er nur ein geringes Gewicht hatte, wog er schwer. Sie hatte die Adresse sorgfältig in der Mitte platziert und sich beim Schreiben Mühe gegeben. Das machte vielleicht Eindruck beim Empfänger. Aber sie wusste, dass man dem Umschlag kaum einen aufmerksamen Blick gönnen würde. Sollte sie ihn nun in den Kasten werfen oder nicht? Sie hätte ja auch eine Mail schreiben können. Aber das fand sie zu unpersönlich. Es ging immerhin um ihre Zukunft. Das hier war keine einfache Sache. Selbst wenn sie in die engere Auswahl kam, würde sich alles für sie ändern. Vielleicht zögerte sie deshalb? Ihre Eltern hatten ihr den Namen eines mutigen Mädchens gegeben und sie manchmal im Scherz Räubertochter genannt. Sie hielt sich nicht für besonders furchtsam, aber ihre Hände zitterten, als sie die Klappe des Briefkasten anhob. Was für ein Feigling sie doch war! Nie hätte sie gedacht, dass sie sich selbst einmal solch ein Armutszeugnis ausstellen würde. Das dumpfe Gefühl in ihrem Magen verstärkte sich und gallebittere Übelkeit überfiel sie. Abrupt drehte sie sich herum und rannte davon. Den Brief hielt sie noch immer in der Hand. Sie überquerte die Brücke des Flusses, blieb in der Mitte stehen und sah wie er den Fluten entgegen trudelte, als wäre er ein totes Tier.
Tage später schlug sie die Zeitung auf und blickte in lachende Gesichter. Jeweils fünf Frauen und fünf Männer waren in die engere Auswahl derer gekommen, die an einer Expedition zum Mars teilnehmen würden.
Abendrot
Lydia biss die Zähne zusammen. Die vergangenen Tage und die lange Autofahrt zehrten an ihren Kräften. In den letzten Wochen war ihr Lebensplan zusammengestürzt. Einfach so. Plopp. Mann weg, Job weg. Jetzt war sie auf den Weg nach Norden, in ein fremdes Land, dessen Sprache sie nicht einmal verstand. Man hatte ihr gesagt, dass Englisch anfänglich reicht. Später würde man weitersehen.
Im Kofferraum lagen ein Sack mit Klamotten und eine Kiste mit Büchern. Mila, ihre rotbraune Labradorhündin, schlief seelenruhig auf der Rückbank. Wenigsten ein Lebewesen, das bedingungslos zu ihr hielt. Alle hatten sie für verrückt erklärt. Auswandern! Hals über Kopf! Wer lässt denn mit einem Schlag alles hinter sich zurück?
Was war, wenn sie nun doch übereilt handelte? Das traurige Lied im Radio passte genau zu ihrer Stimmung und dem wolkenverhangenen Himmel. War ihre Entscheidung richtig? Ein Zeichen als Bestätigung wäre nicht schlecht, dachte sie sich. Das Schild am Straßenrand zeigte an, dass sich linkerhand ein Parkplatz befand. Kurzentschlossen bog sie ab. Als sie anhielt, legte sie den Kopf auf das Lenkrad und schloss erschöpft die Augen. Was sollte sie nur tun?
Sie musste eingeschlafen sein. Als die Hündin sie sanft mit der Nase anstupste, öffnete sie verwundert die Augen. Der Himmel war jetzt wolkenlos. Die Sonne ging gerade unter und tauchte die Welt in ein märchenhaftes Abendrot. Lydia stieg aus, ließ Mila heraus und betrachtete das Schauspiel, das sie seltsam tröstete. Als es dämmerte, machte sie sich mit ihrer vierbeinigen Gefährtin erneut auf den Weg. Weiter in Richtung Norden.
Lichtstrahl
Noah fluchte. Sein Auto hatte Panne. Der Handyakku war leer. Er lief schon gefühlte Stunden auf dieser Straße entlang. Nirgendwo ein Lichtstahl. Kein Mondschein durchdrang die Wolken. Kein Auto kam vorbei, das ihn vielleicht mitnehmen könnte.
Endlich ertönte ein Brummen. Ein Fahrzeug! Noah stellte sich breitbeinig auf die Straße und breitete die Arme aus. Er hatte es satt im Dunkeln umherzuirren. Der Typ würde anhalten müssen.
Ein greller Lichtstrahl blendete ihn und er riss die Hände vor das Gesicht. Gleich darauf spürte einen Aufprall und dann nichts mehr.
Als er wieder zu sich kam, sah er ein Auto quer auf der Straße stehen. Ein Mann lehnte schweigend dagegen, während eine Frau fassungslos weinend hin und her lief. Und dann lag da noch eine regungslose Gestalt quer vor den Rädern des Fahrzeuges ausgestreckt.
Er murmelte: „Ich sollte hingehen und sagen, dass es mir gut geht.“ „Das brauchst du gar nicht erst versuchen. Sie können dich weder sehen noch hören.“ Noah drehte sich um. Hinter ihm stand ein Hirsch mit einem riesigen Geweih. „Wieso kannst du sprechen?“ „Falsche Frage. Sie sollte lauten: Wieso kannst du mich hören.“ „Ja, dann also: Wieso kann ich dich hören?“ „Weil du tot bist.“ „Tot?“ „Tot, gestorben, verunfallt, wie du willst.“ Der Hirsch wies mit dem Kopf in Richtung Waldrand. Obwohl es noch immer stockdunkel war, konnte Noah etliche schemenhafte Gestalten ausmachen. „Wie wir alle. Komm sie warten schon.“ Etwas in Noah bäumte sich auf: „Ich will aber nicht!“ „Wen interessiert das“, murmelte der Hirsch im Gehen.
Blumenstrauß
Jana biss sich auf die Lippe. Es stimmte also tatsächlich. Kai war gestorben. Misstrauisch beäugte sie die Todesanzeige. Darunter standen die Namen seiner Eltern, seines Bruders. Die anderen Trauernden waren ihr unbekannt. Er hatte geheiratet und zwei Kinder gehabt. Warum denn nicht. Sie hatten sich vor ungefähr vierzig Jahren getrennt. Jeder von ihnen lebte danach in einer anderen Stadt.
Jana krauste die Stirn. Sie hatte Kai damals verlassen, wegen des Gefühls, dass sie nicht das Wichtigste auf der Welt für ihn war. Seine Oldtimer kamen bei ihm stets an erster Stelle. Und tatsächlich war auf der Traueranzeige auch eines dieser Vehikel abgebildet. Wenn sie Zweifel gehabt hätte, das es sich bei dem Verstorbenen um IHREN Kai handelte, das Bild hätte sie zerstreut.
Nach der Trennung gab es andere Männer in ihrem Leben. Doch keinem war sie das Wichtigste gewesen, musste sie sich eingestehen. Einer stand zu gern im Mittelpunkt. Der nächste mochte alle Frauen. Und dann war der, der zu gern trank. Der Mann den sie schlussendlich geheiratet hatte, rührte keinen Tropfen an. Frauen die mit alkoholkranken Männern zusammenlebten suchten sich meist immer wieder Partner mit solchen Problemen. Bei ihr war das nicht so. Sie war stolz darauf, dass sie das Muster unterbrochen hatte.
Georg liebte Sport über alles. Bei diesem Gedanken wurde ihr siedend heiß. Sie war auch ihm nicht das Wichtigste auf der Welt. Scheiß Muster, dachte sie noch, als sie zum Hörer griff und sich bei Fleurop erkundigte, ob die einen Blumenstrauß auch zum Friedhof liefern würden.
Einkauf
Cora stellte die Einkaufstüten auf den Küchentisch und drückte den schmerzenden Rücken durch.
„Wird ja Zeit, dass du kommst.“, tönte seine nörgelnde Stimme von nebenan. „Ich hoffe du warst beim Obsthändler und hast nicht wieder den Schrott vom Supermarkt gekauft.“
„Ja, ich war dort und habe die großen Orangen mitgebracht, die du liebst.“ Sie nahm die Früchte aus der Tüte und legte sie in eine Schale. Sie waren wirklich schön. Dafür war sie eine halbe Stunde durch den eisigen Novemberwind gelaufen.
Als sie die Papiertüte zerknüllte, bemerkte sie, dass sich darin noch etwas befand. Es war eine kleine, flache Schachtel mit der Aufschrift „Vielen Dank für ihren Einkauf. Das ist ein Geschenk ihres freundlichen Obsthändlers.“ Als sie den Inhalt auf ihre Hand schüttete, fiel ein Armband heraus. Obwohl sie nicht auf Tand stand, streifte sie es über. Als sie das Funkeln der Steine im Licht der Lampe bewundern wollte, fiel ihr Blick aus dem Fenster. Die Straßenlaterne auf dem Gehweg konnte den Novembernebel kaum durchdringen. Sie murmelte, dass sie wünschte, es würde schneien. „Bring mir mal ein Bier!“, forderte er von nebenan. Sie holte eine Flasche aus dem untersten Fach des Kühlschranks und unterdrückte ein Stöhnen. Dieser verflixte Rücken! Könnte er nicht einfach Ruhe geben? „Wo bleibt mein Bier?“ Wie schön wäre es, wenn der Kerl sich einfach in Luft auflösen würde. Sie reckte sich und der Schmerz im Rücken verschwand. Als sie ins Nebenzimmer trat, war da niemand. Sie sah sich erstaunt um. Draußen vor dem Fenster schneite es.
Verlust
Mit zitternden Händen holte Maja das Päckchen aus ihrer Jackentasche. Sie hatte es kaum erwarten können, dass die Führung durch das Klostermuseum zu Ende war. Am liebsten wäre sie gleich, nachdem sie das kleine Paket in ihren Besitz gebracht hatte, davon gestürmt. Allerdings befürchtete sie, dass sie damit mehr Aufmerksamkeit auf sich zog, als ihr lieb war. Maja war sich nicht sicher, ob sie inzwischen unter Verfolgungswahn litt, aber sie hatte das Gefühl, dass einige Mitglieder der Reisegruppe sie argwöhnisch betrachteten. Wer nahm schon als relativ junger Mensch an einer Fahrt durch den Osten Deutschlands teil? Die meisten der anderen Reisenden, bis auf zwei Männer mittleren Alters, waren Senioren, die noch nie zuvor die ehemalige Grenze zur DDR überquert hatten. Sie äußerten sich ständig darüber, dass es hier gar nicht so schlimm aussehe wie erwartet.
Eine der lautesten Stimmen gehörte einem Opa aus Westfalen. Maja hielt ihn anfänglich nur für einen Meckerkopp, bis sie eines Abends misstrauisch wurde. Alle anderen Mitstreiter waren im Hotel zum Abendessen. Sie wollte sich ein Taschentuch holen, da entdeckte sie den Alten in ihrem Zimmer. Auf die Frage hin, was er hier zu suchen habe, antwortete er nicht und verschwand schnell. Sie war sich sicher, dass er das Tagebuch ihrer verstorbenen Großmutter gesucht hatte. Zum Glück trug sie es immer bei sich. Wenn er es gefunden hätte, dann wäre ihr Vorhaben zum Scheitern verurteilt. Einen Verlust der Anleitung, wie sie die einzelnen Puzzleteile für das Versteck des Schatzes finden würde, konnte sie sich nicht leisten.
Lichtschalter
Draußen tobte der Sturm. Er riss an den Zweigen der Bäume und schüttelte sie wütend. Äste fielen krachend zu Boden. Zweige segelten im Zickzack wie herrenlose Boote über den Asphalt. Ein umgestürzter Baum beendete ihre Odyssee. Sie türmten sich auf und bildeten nach und nach einen Damm aus Grün, der die Welt hinter dieser Barriere ausschloss.
Es war sinnlos auf ihn zu warten. Selbst wenn er sich trotz der Unwetterwarnung des Landkreises auf den Weg gemacht hatte, würde er nicht durchkommen. Hier hatte nicht einmal die Feuerwehr eine Chance. Vielleicht ein Panzer? Trotz der unheimlichen Szenerie, die sich vor ihrem Fenster abspielte musste sie grinsen. In ihrer Phantasie schob sich eines dieser Fahrzeuge, das sie aus seinen Computerspielen kannte, über den Wall aus Holz und Blättern. Die Luke würde sich öffnen und er käme als strahlender Held durch die immer stärker werdende Dunkelheit.
Sie lehnte die Stirn gegen die Scheibe. Das war angenehm kühl. Der Sturm hatte die Wolken herangetrieben. Dunkel und bedrohlich hingen sie am Himmel. Die zerzausten Wipfel der Bäume waren kaum noch zu erkennen. Gleich würde es zu regnen beginnen. Sie sollte hier nicht im Finstern stehen und nach draußen starren.
Mit schleppenden Schritten ging sie ins Bad. Als sie den Lichtschalter drückte passierte nichts. Wahrscheinlich war die Leitung tot. Zum Glück stand auf dem Regal unter dem Spiegelschrank eine ihrer geliebten Kerzen. Sie zündete sie an, warf einen Blick in den Spiegel und erschrak. Statt ihres eigenen Gesichts erblickte sie eine hässliche Fratze mit gefletschten Zähnen.
Frost
Unweit des Dorfes am Waldrand standen zwei Bäume, welche „die Liebenden“ genannt wurden. Eine Buche und eine Eiche waren im Laufe vieler Jahre ineinander gewachsen. Kronen und Wurzeln hatten sich verflochten, als ob sie sich ewige Treue geschworen hätten. Eine Sage erzählte von einem verwunschenen Paar, dem der Segen verweigert wurde. Der Zauberspruch einer Hexe verwandelte sie, als sie gemeinsam in den Wald flohen. Der Bursche wurde eine Eiche und das Mädchen in eine Buche. Seitdem schützt der Eichenbaum seine Liebste vor Sonne, Wind und Sturm.
Viele Jahrzehnte später stieg der Preis für Eichenholz einmal ins Unermessliche. Der Gutsherr, dem der Wald gehörte, beschloss die Eiche fällen zu lassen. Aber der Holzfäller des Dorfes weigerte sich, also schickte er nach einem Fremden, der die Aufgabe übernahm. Als die Eiche zu Boden fiel, ging ein Stöhnen durch den Wald, welches alle zu Tränen rührte .
Nun stand die Buche ohne Schutz am Waldrand. Sonne verbrannte ihre Rinde, Sturm riss daran, sodass sie rissig und spröde wurde. In einer Januarnacht fuhr der Frost hinein und sprengte sie mit einem lauten Knall. Aus der Wunde entwich Nebel, der die Form einer Frau annahm. Die sah sich verwundert um, schien sich zu besinnen und flog mit einem unheimlichen Heulen in Richtung des Dorfes. Die Frau des Gutsherren fand ihren Gatten am nächsten Morgen tot im Bett. Seine Augen waren angstvoll aufgerissen und die Hände wie zur Abwehr ausgestreckt. Im Dorf erzähle man sich, dass der fremde Holzfäller auch in derselben Nacht verstorben wäre.
Gegenüber
Den Waldweg entlang stapfend, maulte Frank vor sich hin. „Was für eine blöde Idee, mitten in der Nacht bei Regen zu diesem Steinhaufen zu laufen. Ich Idiot! Wieso habe ich mich darauf eingelassen?“
Holger murmelte beschwichtigend etwas, das wie „na, na“ klang. Immerhin war es Franks Vorschlag gewesen, heute um Mitternacht am Hügelgrab aufzutauchen.
Holger schrieb an einem Buch über Steinkreise, Menhire und Hügelgräber. Frank war der Fotograf, der es mit Bildern versah. So kam es, dass sie sich zwangsläufig auch über Holgers Recherchen unterhielten. Die hatten erstaunliches ergeben. An der Stelle, der sie sich jetzt näherten, hatte es in den letzten zweihundert Jahren immer wieder tödliche Zwischenfälle gegeben. Laut alten Zeitungsberichten waren hier gleich mehrere Männer einem Herzschlag erlegen. Das Kuriose daran war, dass sich die Begebenheiten in verschiedenen Jahrzehnten, aber jeweils zum Zeitpunkt der Tagundnachtgleiche ereigneten.
Während Holger einen Zusammenhang vermutete, nannte Frank ihn einen überdrehten Esoteriker. Bei einer abendlichen Diskussion forderte er ihn nach dem fünften Bier auf, endlich Beweise zu erbringen. Holger konnte nur die Zeitungsartikel vorweisen, die Frank nicht gelten lassen wollte. Stattdessen forderte er ihn auf, zum Hügelgrab zu gehen. Immerhin war genau heute der Tag, an dem es wieder passieren könnte.
Leicht außer Atem standen sie kurz vor Mitternacht den riesigen Steinblöcken gegenüber. Frank sah Holger grinsend an. „Und? Wie du siehst, passiert nicht. Das Ganze ist nix als ein blöder Zufall.“ Der wollte gerade zugeben, dass er im Grunde genommen froh darüber war, als sich eine weiße Gestalt aus den Steinen löste.
Hut
Die Reisegruppe schlenderte über den alten Friedhof. Wer sich die Zeit nahm und die Zusätze auf den verwitterten Grabsteinen las, der konnte spannende Geschichten entdecken. Während die Mitreisenden gebannt den Geschichten des Führers über die Abenteuer einer freizügigen Dame lauschten, schlich sich Maja zum Grab des Herfried von Riede. Dessen Sohn galt als Spieler und Säufer. Zudem war er jähzornig, was auch Frau und Tochter schmerzhaft zu spüren bekamen. Weil er in allem maßlos war, vergriff er sich ohne Gewissensbisse am Schmuck seiner Gattin, um seine Spielschulden zu bezahlen. Die versuchte zu retten, was noch übrig war und versteckte den Rest vor ihrem habgierigen Gemahl. Nach dessen vorzeitigen Ableben, welches die Folge eines Streites mit dem Nachbarn war, konnte sie den Schmuck nicht bergen, denn eine Grippe raffte sie alsbald dahin.
Die Geschichte von dem verborgenen Schatz wurde von den weiblichen Mitgliedern ihrer Familie über Generationen weitergegeben. Das Grabmal sollte einen Hinweis auf das Versteck enthalten. Sie hatte sich jede Stelle am Gedenkstein genau angesehen. Nichts. Nur der Spruch darauf war eigenartig. „Herrscht der Hausherr treu und gut, so zieht die Gattin ihren Hut.“ Was sollte das? Hutziehen war Männersache. Maja betrachtete die Schrift genauer. Das Wort HUT zog sie magisch an. Als sie es mit den Fingern abtastete, hatte sie den Eindruck, dass die Buchstaben locker saßen. Sie ließen sich tatsächlich herausziehen. Im dahinterliegenden Hohlraum fand sie ein kleines Päckchen. Das war kein Schmuck! Sicher wieder nur ein weiterer Hinweis. Maja fluchte enttäuscht. Das Ganze entwickelte sich zur Schnitzeljagd.
Zerschellt
Johann nahm verwundert das kleine Päckchen in Empfang. Wieso bekam er ein Geburtstagsgeschenk von Till? Gewiss, sie waren einmal Freunde gewesen. Aber das war lange her.
Johann entfernte das Papier und öffnete den Karton. Er enthielt einen Briefumschlag und eine bunte Blechschachtel, die sorgfältig in Seidenpapier eingewickelt war. Es war eine Grammophon Nadeldose von Condor. Till hatte schon immer gewusst, womit er ihm eine Freude machen konnte. Seit seinem zehnten Lebensjahr sammelte Johann solche Schachteln. Inzwischen brachte er es auf die stattliche Anzahl von 250 Stück. Diese hier war ein echtes Schmuckstück. Liebevoll strich er über den Deckel, auf dem ein Hund, der in einen Grammophontrichter schaute, abgebildet war.
Es schien so, als ob Till ihm die alten Geschichten endlich vergab. Damit hätte er nicht gerechnet. Natürlich plagte Johann manchmal das schlechte Gewissen. Immerhin hatte er damals Till die Frau ausgespannt und die gemeinsame Firma ruiniert, da er in seine Tasche wirtschaftete. Als alles ans Licht kam, kündigte Till ihm wie erwartet die Freundschaft. Aber das war es wert gewesen. Inzwischen war er wer, hatte seinen Platz in der Gesellschaft errungen. Wenn man etwas erreichen wollte, dann durfte man keine Rücksicht nehmen.
Was wohl in dem Brief stand? Verwundert las er die Zeilen von Ludwig Tieck „Eigennutz ist die Klippe, an der jede Freundschaft zerschellt.“ Was mochte das bedeuten? Egal. Er sollte lieber einmal nachsehen, ob in der Schachtel auch Nadeln waren. Als er den Deckel öffnete blendete ein greller Blitz seine Augen. Den ohrenbetäubenden Knall hörte er nicht mehr.
Karambolage
Maja lehnte sich zurück und betrachtete das verschnürte Päckchen. Sie hoffte, dass es den entscheidenden Hinweis für ihre Suche nach dem Schatz enthielt. Schließlich holte sie tief Luft und wickelte es aus. Ihr entfuhr ein erstauntes „Was soll denn das?“, als sie den Inhalt auf den Tisch schüttete. Vor ihr lagen zwölf Holzstückchen, auf die mit brauner Farbe Buchstaben gemalt waren. Braune Farbe? Doch nicht etwa getrocknetes Blut? Maja schüttelte sich. Vorsichtig sortierte sie das Legespiel und versuchte Worte daraus zu bilden. Sie probierte zig Möglichkeiten, aber keine ergab Sinn. Begriffe wie Karma, Blamage, Lage oder so ließen sich leicht bilden. Aber immer blieben Buchstaben übrig. Einmal glaubte sie schon es geschafft zu haben. Ein Satz fügte sich zusammen: Egal ob Mark. Wer war Mark? Sie hatte keine Ahnung. Außerdem war ein A übrig geblieben. Das konnte es also auch nicht sein. Das einzige vernünftige Wort, in dem alle Buchstaben vorkamen war Karambolage. So ein Quatsch! Selbst Google lieferte dafür nur die bekannten Erklärungen, wie Zusammenstoß oder Streit. So kam sie keinen Schritt weiter! Wütend wollte sie das Papier, in dem die Hölzer eingewickelt waren, zerknüllen. Im letzten Moment fiel ihr Blick auf eine verblasste Botschaft, die sie vorher übersehen hatte. „Nimm eines mehr als die Hälfte und du erkennst, wo du weiter suchen musst.“ Die Hälfte von zwölf war sechs. Sie brauchte also nur sieben Buchstaben, um eine Lösung zu finden. Es dauerte nicht lange, als sie zufrieden grinste. Sie hatte das Wort GRABMAL gelegt. Und das ergab Sinn.
Licht
Sie schrak zusammen, als sich die Stimme des Navigationsgerätes meldete. „Das GPS-Signal ist ausgefallen.“ Eigentlich brauchte sie es nicht, denn sie kannte den Weg. Das Ding lief nur aus Gewohnheit. Und vielleicht, um sie daran zu erinnern, dass es besser wäre, die vorgegebenen Geschwindigkeiten nicht zu übertreten. Es war keine Seltenheit, dass die Polizei hier im waldreichen Gebiet lauerte. Sie warf einen unwilligen Blick auf das Display. Dort stand tatsächlich, dass das Gerät keine Verbindung zum Satelliten herstellen konnte.
Egal. Sie war eh gleich daheim Hinter der nächsten Kurve sollten die Lichter der Stadt auftauchen. Doch es blieb dunkel. Nur das schwache Licht ihres alten Mazdas erhellte die Straße.
Verdammt. Sie war doch eben am Ortseingangsschild vorbei gefahren? Wieso war es hier stockfinster? Das die Straßenlaternen manchmal ausfielen war nicht ungewöhnlich. Aber Mitternacht, wo in dem kleinen Städtchen alles schlief, war noch längst nicht heran. Außerdem sollten doch wenigstens der Eingang der Bank und die Polizeistation beleuchtet sein! Hier brannte nirgendwo auch das kleinste Licht. Bei Stromausfall würden die Bewohner der Häuser doch sicher Kerzen anzünden. Und deren Schein könnte man doch durch die Fenster erahnen. Nichts, absolut nichts.
Sie hielt an, blieb aber im Auto sitzen. Was war hier los? Der Ort war wie ausgestorben. Plötzlich drang ein Lichtschein aus einer Seitenstraße. So wie das Licht sich bewegte, kam da ein Mensch mit einer Taschenlampe. Sie seufzte erleichtert auf und stieg aus. Gerade in dem Moment, indem sie rufen wollte, fiel der Schuss. Und es wurde dunkel um sie.
Sauer
Malik öffnete die Tür zu Professor Wennmans Appartement und sah sich vorsichtig um. Er hatte zwar einen Schlüssel, aber war dabei in Privaträume eines Dozenten einzudringen. Etwas, was streng verboten war. Vielleicht wog das Vergehen in diesem Fall weniger schwerwiegend, da der Professor urplötzlich und ohne Begründung von seiner Lehrtätigkeit suspendiert worden war. Vielleicht machte das alles noch viel schlimmer.
Wennman forschte aktuell in Südamerika. Er hatte Malik gegen 6 Uhr in der Früh eine kryptische Botschaft aufs Handy gesprochen und ihm erklärt, wo der Schlüssel für sein Appartement versteckt war. Der Professor forderte ihn auf seinen Laptop zu starten und eine darauf befindliche Datei zu verschicken, die er dringend benötigte. Gegen 8 Uhr verkündete der Campusfunk die Entlassung des Geschichtsprofessors. Angeblich hätte er aus gesundheitlichen Gründen darum gebeten. Das passte irgendwie gar nicht zu seiner Sprachnachricht, bei der er zwar aufgeregt, aber ziemlich munter klang.
Malik sah sich erwartungsvoll in den Wohnräumen Wennmans um. Überall gab es Stapel von Büchern. Viele davon waren mit Unmengen von Lesezeichen versehen. Die aufgeschlagenen Exemplare auf dem Schreibtisch prangten voller bunter Markierungen. An den Wänden hingen Karten Südamerikas aus verschiedenen Epochen. Malik nahm eines der geöffneten Bücher in die Hand. „Däniken? Wusste nicht, dass Wennman ein Anhänger dieses Spinners ist.“ Er startete den Laptop. Verdammt! Das Teil war passwortgesichert. Sein Blick fiel auf einen Spruch, der ebenfalls an der Wand hing. „Sometimes An Unthinkable Exist Really….“ ??? Er gab SAUER ein und hielt die Luft an, bis das vertraute Plong des Startvorganges ertönte.
Gestein
Sie lag mit dem Gesicht nach unten auf dem feuchten Waldboden. Ihre Hände tasteten suchend umher, bis sie einen Stein erfühlten, der die passende Größe haben könnte. Aufatmend schloss sie die Finger darum. Die kalte glatte Oberfläche beruhigte sie ein wenig und das wilde Pochen ihres Herzschlags in den Ohren ließ nach. Nun drangen auch die Geräusche des Waldes wieder zu ihr durch. Da war das leise Knacken im Unterholz, das wohl von einer Maus oder einem anderem kleinen Tier stammen mochte. Der heisere Ruf einer Eule verkündete, dass sich der Nachtjäger auf die Suche nach Beute machte. Oben in den Wipfeln der Bäume rauschte sanft der Wind. Gerade als sie sich entspannen wollte, hörte sie Schritte. Sie verkrampfte sich. Er hatte sich tatsächlich auf die Suche nach ihr gemacht! Mit zitternden Knieen erhob sie sich und unterdrückte gerade noch ein Stöhnen, das ihr entweichen wollte, als sie den linken Fuß aufsetze. Mit zusammengebissenen Zähnen humpelte sie vorsichtig zu einem Felsvorsprung und drückte sich so gut es ging an das Gestein. Zum Glück verschwand der Mond gerade hinter eine Wolke. Sie trug, wie fast immer in der letzten Zeit dunkle Kleidung und versuchte mit dem Hintergrund zu verschmelzen. Vielleicht würde er sie nicht entdecken. Doch dann stand er mit einem Grinsen vor ihr. „Na, wem haben wir denn hier?“ Er streckte den Arm nach ihr aus. „Das was du gesät hast, das wirst du jetzt ernten.“ Sie spürte den Stein, der noch immer in ihrer Hand lag und schlug zu.
Zeit
Martha sah sich schlaftrunken um. War es wirklich schon Zeit zum Aufstehen? Sie warf einen Blick aus dem Fenster. Draußen graute der Morgen. Sie seufzte leise. Es lohnte sich wohl kaum noch einmal einzuschlafen. Im angrenzenden Wald waren die Vögel schon penetrant am Zwitschern. Wie konnten sie nur jetzt schon so fröhlich sein? Martha schüttelte den Kopf. Dann sah sie sich nach ihren Freundinnen um. Die schienen alle noch fest zu schlafen. Wie beneidenswert, dachte sie bei sich.
Aus den Augenwinkeln nahm sie eine Bewegung wahr. Natürlich. Heino war wieder als erster unterwegs! Wann schlief dieser Kerl eigentlich? Hoffentlich kam er nicht auf die Idee, jetzt Lärm zu machen. Dann würden alle anderen unweigerlich aufwachen. Wenn sie ehrlich war, genoss sie die Ruhe. Wenn man den ganzen Tag nie allein war, dann war so ein stiller Morgen eine echte Wohltat. Es machte zwar keinen Sinn, wieder einschlafen zu wollen, aber die Zeit reichte sicher noch zu einer kleinen Meditation. Oder sie konnte einfach etwas über das Leben nachdenken. Warum die Tage immer gleich abliefen. Warum es manchmal Streit um Sachen gab, die sich am Ende als nichtig herausstellten. Vielleicht war das so, weil es hier nicht wirklich Wichtiges zu tun gab. Keiner aus ihrer Truppe hatte jemals Anstalten gemacht, um etwas großes zu vollbringen. Niemand hier wollte die Welt retten. Eigentlich schade.
Sie schrak aus ihren Gedanken auf als sie Schritte hörte. Die Tür öffnete sich und eine Menschenfrau steckte ihren Kopf hinein. „Guten Morgen ihr Hühner! Zeit zum Aufstehen!“
Zeitung
Die Runde schwieg scheinbar beeindruckt. Dann ergriff Tom das Wort. „Schatz, das hast du wirklich toll gemacht!“ Er klatschte in die Hände und die anderen fielen ein. „Welch tiefsinnige Worte!“ „Es ist wirklich erstaunlich, wie du die Situation des Augenblicks eingefangen hast.“ Seine Freunde überschlugen sich in Lobenshymnen. Niemand hätte es eh gewagt, die Freundin des Verlegers zu zerpflücken oder Kritik an ihrem vorgetragenen Gedicht zu äußern.
Einzig ihre Freundin Elli sah sie skeptisch an und fragte später: „Du schreibst wieder Gedichte?“ Beide kannten sich seit der Schulzeit. Elly war die einzige, die nicht zu Toms illustren Kreis von selbsternannten Literaten gehörte. „Ich habe doch schon in der Schule Gedichte geschrieben.“ „Ja, aber solche die sich reinem und nicht so ein neumodiges Zeugs.“ Sophie rieb sich den Nacken und holte Luft: „Tom fand meine Sachen langweilig und öde. Da wollte ich ihn beeindrucken. Aber mir fiel einfach nichts ein. Alles klang wie, reim dich oder ich fress dich. Ich war drauf und dran aufzugeben, da erinnerte ich mich an eine der Deutschstunden bei unserer Frau Beyer. Und ich habe es getan!“ Elli sah sie erst fragend an und begann dann zu grinsen. „Zeig her, ich will das sehen!“ Sophie grinste ebenfalls, griff nach einer alten Ausgabe der Geo, stellte sich in Position und begann ihr Gedicht mit Pathos vorzutragen. Ihre Freundin quietschte vor Vergnügen und riss ihr die Zeitung aus den Händen. Quer über die Seite war ein Strich gezogen. Sophie hatte einfach alle Worte vorgelesen, die damit markiert waren.