Aufatmend sah Maja den im Dunkeln verschwindenden Rücklichtern der Autos nach. Sie leibte ihre Familie, aber was zu viel war, war zu viel. Die ganzen Weihnachtstage hatte sie damit verbracht zu kochen, zu backen, den Tisch zu decken und wieder abzuräumen. Im Nachhinein kam es ihr vor, als hätte sie eine ganze Horde hungriger Mäuler verköstigt. Drei erwachsene Kinder mit Partnern und insgesamt sieben Enkelkindern waren immerhin dreizehn Personen. Und jeder davon hatte Eigenarten und Vorlieben, die berücksichtigt werden wollten. Das ging von A wie Allergie gegen Nüsse bis hin zu Z wie Zöliakie, der Unverträglichkeit gegen Gluten, von der sie bis dato noch nie etwas gehört hatte. Eines ihrer Enkelkinder mochte keinen Fisch, ein anderer wollte nur Bärchenwurst. Der Lebensgefährte ihrer ältesten Tochter trank keinen Alkohol. Was ja nicht das Schlechteste war, wie sich Maja eingestand. Der Mann der jüngsten Tochter verschmähte Saft und Wasser aus Plasteflaschen. Dazu kamen noch diverse Abneigungen der einzelnen Gäste gegen Kuhmilch, Spinat, gekochte Eier, Ingwer und Knoblauch. Zum Glück hatte sie all diese Informationen schon im Vorfeld erhalten und entsprechend eingekauft. Natürlich wieder einmal viel zu viel von allem.
»Was mache ich nun mit dem ganzen Zeugs?«, fragte sie Bosco, ihren Labradormischling, der schwanzwedelnd neben ihr stand. Täuschte sie sich oder sah er auch erleichtert aus? Als Antwort ertönte ein lautes, vorwurfsvolles »Miau« aus dem Gebüsch neben dem Gartentor. Lotti, die schwarzweiße Katze, hatte sich in den letzten Tagen ziemlich rar gemacht. Ihr war der Trubel im Haus wohl auch zu viel gewesen.
Vorsichtig lugte sie aus ihrem Versteck. Als sie bemerkte, dass weit und breit nur noch ihr Frauchen und der Hund zu sehen waren, kam sie mit hocherhobenen Schwaz auf beide zu. Bosco wedelte zu Begrüßung noch heftiger mit der Rute. Die Tiere mochten sich, obwohl sie beide Findelkinder waren und sich erst in Majas Haus kennengelernt hatten. Die Frau beugte sich herunter, um der Katze über den Kopf zu streichen. Dann forderte sie ihre tierischen Mitbewohner auf, mit ins Haus zu kommen, denn ihr war inzwischen kalt geworden. Aufseufzend schloss sie die Tür hinter sich. Es würde einige Zeit dauern, bis ihre gewohnte Ordnung wieder hergestellt war. Warum dachten ihre Kinder nur, dass sie ohne einen mehrtägigen Dauerbesuch aller Familienmitglieder die Feiertage in Trauer und Trübsal verbringen würde? Maja schüttelte den Kopf. Als ob sie je großen Wert auf diesen ganzen Weihnachtsrummel gelegt hätte. Wie in jedem Jahr hatte man sie auch diesmal mit in die Kirche zum Gottesdienst geschleppt. Das war ja nun gar nicht ihr Ding. Vor allem ihre mittlere Tochter hatte nicht locker gelassen. Dabei war niemand aus ihrer Familie besonders gläubig. Als die Kinder noch klein waren, drehte sich natürlich alles um die Weihnachtsgeschichte, die gängigen Lieder und alles, was so der übliche Brauch war. Seit das Ganze jedoch immer kommerzieller aufgezogen wurde und es schon im September die ersten Schokoladenweihnachtsmänner zu kaufen gab, erinnerte sich Maja viel lieber an die Geschichten ihrer eigenen Großmutter. Die war zu Lebzeiten so etwas wie eine »weise Frau« gewesen und hatte ihr viel von den heidnischen Bräuchen erzählt, die man im Dorf heimlich noch pflegte. Inzwischen wusste kaum noch jemand etwas darüber. Das war doch ziemlich schade, fand sie. Weil ihr gerade in der Vorweihnachtszeit die alten Erzählungen immer wieder eingefallen waren, hatte sie sich zu einem kostenlosen Kurs im Internet angemeldet, der sich mit den Raunächten beschäftigte. In den letzten Tagen war Majas Zeit ziemlich knapp bemessen gewesen und so konnte sie nur kurz vor dem Schlafengehen mal einen Blick auf die Tagesaufgaben werfen. Heute würde sie sich nicht beeilen müssen und hätte Muße genug, sich alles noch einmal in Ruhe durchzulesen.
Das Thema für die derzeitige Raunacht lautete »Lasse Wunder in deinem Leben zu«. Irgendwie war Maja enttäuscht. »Wunder zulassen« war ja nun eine blöde Aufforderung, wenn sie einfach nur zu Hause sitzen wollte, um sich von dem vergangenen Stress zu erholen.
Ein lauter Knall ließ sie zusammenfahren. Was war denn das? Ärgerlich lief sie in das Zimmer, aus dem das Geräusch gekommen war. Auf den ersten Blick sah alles wie immer aus, aber dann sah sie die Beschwerung. »Diese kleinen Monster können auch nicht hören!«, brummelte sie vor sich hin. Sie konnte sich noch ganz genau erinnern, dass sie ihren Enkelkindern gesagt hatte, sie sollen die Spieluhr auf dem Schrank nicht anfassen. Das gute Stück stammte noch von ihrer Großmutter und gab schon lange keinen Ton mehr von sich. Wahrscheinlich war die Feder des Spielwerkes gebrochen. Aber weil die Truhe so schön war, hatte Maja es nicht übers Herz gebracht, das Teil zu entsorgen. Und so kam es, dass sie jedes Jahr zur Weihnachtszeit als Deko hervorgeholt wurde. Damit war es jetzt sicher vorbei, denn der hölzerne Korpus war in mehrere Teile zersprungen. Sicher hatte die Katze die Spieluhr versehentlich herunter geworfen, weil die Kinder sie zu nah an den Rand des Regals gestellt hatten, denn Lotti sah mit missbilligendem Blick auf das Debakel herab. Seufzend bückte sich Maja, um die kläglichen Reste aufzuheben. Plötzlich stutzte sie. Zwischen den Holzstückchen befand sich ein kleines, schwarzes Notizbuch. Sie griff danach und schlug es auf. Sie erkannte die Schrift ihrer Großmutter die Schrift etwas verblasst, aber trotzdem noch klar zu erkennen war. Die ersten Sätze bereiteten ihr Mühe, denn die Notizen waren in Sütterlin, der Schreibschrift, die man heute nicht mehr benutzte. Es dauerte eine Weile, bis sie sich an die einzelnen Buchstaben erinnerte. Großmutter hatte sich zu Lebzeiten geweigert anders zu schreiben und wenn sie damals für Maja eine Notiz hinterließ, was nicht selten geschah, so war diese gezwungen die ungewohnten Buchstaben zu entziffern. Je weiter Maja in dem gefundenen Buch kam, desto einfacher fiel ihr das Lesen. Zum Anfang hatten sich manche Worte nur aus dem Sinn erschlossen, doch bald war es so, als wäre sie nicht mit den Jahren aus der Übung gekommen.
Maja vergaß die kaputte Spieluhr, die Anstrengung der letzten Tage und saß auf dem Boden und las. Erst als ihr die Beine einschliefen, humpelte sie zu ihrem Lieblingssessel, um dort weiter zu lesen. Sie konnte es kaum fassen! Das Notizbuch ihrer Großmutter war ein kleines Wunder! Es enthielt Aufzeichnungen über ….